19. August 2016
6 Minuten zu lesen

Testbericht: Microsoft HoloLens – Oder wie ich mich wieder in Microsoft verliebte.

Microsoft HoloLens Testbericht im TechnikblogDie Spatzen pfeifen es vom Dach: «VR», die Abkürzung für Virtuelle Realität, das sei eine Goldgrube, und werde ganz klar «the next big thing», «es wird die Welt, und wie wir sie wahrnehmen, völlig verändern». Grosse Worte, die üblichen Marketing-Floskeln, und auch Vorschusslorbeeren haben alle Virtual-Reality-Brillen bereits mehr als genug erhalten. Knackig geschnittene Video-Trailer, unterlegt mit packender Musik läuten derzeit auf allen News-Portalen der IT-Branche das nächste Zeitalter der digitalen Welt ein. Fast jeder Hersteller hat momentan für das vierte Quartal «irgendwas mit VR» im Portfolio. Leisten kann sich die nächste Stufe der Evolution zur Zeit aber nur eine Handvoll bereits Erleuchteter, Early Adopters werden sie genannt. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Bei allen grossen Elektronik-Händlern sind bereits Hunderte Vorbestellungen eingegangen, für Produkte die eigentlich noch gar niemand in den Händen hatte. Die «Playstation VR», wird dabei vielleicht am meisten erwartet, viele Schweizer Haushalte besitzen eine «Playstation 4», also ein potenzieller Kassenschlager – die Hersteller reiben sich die Hände, bald ist Weihnachten.

Augmented Reality vs. Virtual Reality

«AR» – also Augmented Reality, oder zu Deutsch Erweiterte Realität fristet im ganzen «VR»-Rummel noch ein Schatten-Dasein. Das letzte «AR»-Produkt, die «Google Glass» war ein wirtschaftlicher Flop, nett ausgedrückt. Umso spannender ist deshalb, dass sich der Hersteller Microsoft nun trotzdem anschickt, im Rahmen seiner Surface-Strategie ein Produkt zu lancieren, welches keine geschlossene Brille sondern eine Art Hologramm-Sonnenbrille ist. Was macht Microsoft mit seiner «HoloLens» dieses Mal besser, als die sehr eleganten «Google Glass»?

Microsoft HoloLens - Augmented Reality

Microsoft HoloLens – Augmented Reality

Microsoft HoloLens – erster Eindruck

Die Microsoft HoloLens ist gross. Auf viele wirkt sie etwas erschreckend, doch nach dem ersten Anprobieren fallen die meisten Zweifel ab. Sie ist zwar etwas klobig, aber das Kopf-Band ist aus gepolstertem Fleece-Stoff und fühlt sich ungewohnt natürlich und angenehm an. Das Trageband über dem Kopf entlastet die Nase, das Brillen Gestell liegt nicht fest auf. Im ersten Eindruck wirkt sie sehr hochwertig – eigentlich fast etwas zu gut, für eine «Developer Edition», bei einem Preis von aktuell 3‘000 Dollar, aber vielleicht auch gut so. Die mehreren aufeinander geschichteten holografischen Linsen sind von einer Art Sonnenbrille geschützt, sollten also auch nicht verkratzen. Im Innern der Brille verbergen sich diverse Kameras, Infrarot-Sender, Sensoren, Prozessoren, ein grosser Akku und zwei Lautsprecher.

Die Brille einmal aufgesetzt, startet sie sich über einen simplen On/Off Knopf auf der Rückseite. Das Gerät zu starten fühlt sich dabei an, wie die Verwendung eines Smart-Phones. Sie befindet sich jederzeit im Standby und ist innert etwa 3 Sekunden einsatzbereit, abhängig von der zu scannenden Umgebung. Alle Apps befinden sich dort, wo man sie beim letzten Besuch verlassen hat. Die wenigen zu lernenden Gesten, lernen selbst sture Technik-Verweigerer innert weniger Minuten. Ansteckend fühlt es sich an, wenn man neben so einem HoloLens-Benutzer steht, irgendwie steht er im selben Raum, und doch hat er mehr davon, sieht Dinge die nicht da sind. Während dem die Freunde in eine andere Welt abtauchen, weichen auch die sonst kritischen Geister  auf und lassen sich rasch zu einem Besuch in der erweiterten Realität überreden.

Die Microsoft HoloLens kann kompakt transportiert werden.

Die Microsoft HoloLens kann kompakt transportiert werden.

Erste Schritte in Augmented Reality

Etwas ungewöhnlich ist der «Start-Bildschirm» schon, wenn man ihn noch so nennen will. Eigentlich befinde ich man ja zu Hause, in meiner Stube. Nur liegen da plötzlich, ähnlich wie beim Erfolgs-Spiel «Pokemon-Go» Objekte auf dem Stubentisch, am Boden, oder schweben in der Luft. Meine grosse, weisse Wand, wird als Projektionsfläche für den Microsoft-Store hinhalten müssen. Ähnlich wie ein Plakat, oder eine Leinwand «klebe» ich die App an der Wand fest. Ich kann mich nun im Raum bewegen, und der Store bleibt an seinem Platz an der Wand hängen. So verschmilzt  der Raum mit der Brille, wenn ich ein neues Spielen herunterladen möchte, laufe ich einfach auf die Wand zu und bediene den Store wie man es von einem Internet-Browser gewohnt ist. Meine, zurzeit in Englisch gehaltenen, Sprachbefehle, versteht Cortana gut. Ich gestikuliere und winke mich schon nach wenigen Minuten gekonnt durch HoloLens-Apps die mir Bilder aus fernen Galaxien versprechen.

 

https://youtu.be/_aLRrig_zAM

Es wird dunkel im Raum. Langsam erscheint eine hell erleuchtete Kugel vor meinen Augen – sie schwebt im Raum – ich laufe um sie herum. Mit einem Fingertipp verwandelt sie sich in die Erde. Eine angenehme Stimme, die über meinem Kopf zu schweben scheint, erzählt mit viel Pathos und theatralischem Ton, eine Geschichte über den Zustand und die Entstehung unseres Heimat-Planeten. Die Ansicht holt nun weit aus und unser Sonnensystem erscheint vor mir. Gemächlich ziehen die Himmelskörper ihre Kreise rund um den hell leuchtenden Stern in der Mitte. Mit einer Handbewegung blende ich Informationen über Uranus ein, die Stimme in meinem Kopf hält einen Vortrag über den Planeten. Wie gerne wäre ich jetzt wieder 6 Jahre alt, und würde sofort wieder die Schulbank drücken. So macht alles Sinn, die Planeten schweben in meinem Wohnzimmer und verdichten sich zur Milchstrasse. Unendlich viele Informationen, das ganze Internet, Wikipedia, alles liegt vor mir, ich brauche es nur herbei zu winken. Ich brauche eine Pause.

Microsoft HoloLens im Einsatz in meinem Wohnzimmer

Microsoft HoloLens im Einsatz in meinem Wohnzimmer

Das Gewicht der Brille störte mich bis jetzt überhaupt nicht, keine Druckschwielen auf der Nase, kein unangenehmes Gefühl. Nur dass ich meine Computer-Brille nicht anhabe, spüre ich gut. Meine Augen schmerzen etwas und tränen etwas, nach einer guten halben Stunde in der erweiterten Realität fühle ich mich wie nach zwei Stunden Arbeiten im Büro. Die bisherigen Eindrücke sind fantastisch, ich will da wieder rein.

In der Krimi-App «Fragments» scanne ich als erstes mein Wohnzimmer. Minutiös und für die anderen Anwesenden etwas befremdend, laufe ich unsere Wohnung ab, und trage dabei eine Art Sonar-Gerät, das aus meinem trauten Daheim einen Polygon- und Pixel-Haufen macht. Sofa, Salontisch, Stühle, der Ofen, Gemälde an der Wand. Alles hat die HoloLens aufgesogen und gespeichert. Meine Frau startet das Spiel und unsere bequeme Liegelandschaft verwandelt sich in den Schauplatz eines Mordfalls. Das dekorative Bild an der Wand wurde ersetzt durch eine gruselige Version davon. An der leeren Wand ist jetzt ein Fenster, aus dem man ins Freie sieht, die Dämmerung zieht auf und taucht die virtuelle Wiese in blaues Licht.

Microsoft HoloLens - der Renner im Büro

Microsoft HoloLens – der Renner im Büro

Leere Patronenhülsen liegen verstreut über den Boden. Auf unserer Couch sitzt ein Mann, er erklärt in ernstem Ton was geschehen ist, was jetzt zu tun ist. Vor unserem Fernseher kniet ein Junge mit gesenktem Blick, er ist vielleicht 10 Jahre alt. Ein älterer Herr, mit schwarzem Mantel und Schlapphut drückt dem Jungen eine Pistole an die Schläfe. Der Moment ist eingefroren, niemand bewegt sich. Erschaudernd. Meine Frau läuft rund um den Schauplatz. Analysiert Details der Szenerie, findet Hinweise am Boden, ein abgerissenes Billet eines Kino-Films, Zigarettenstummel mit Lippenstift. Was ist hier geschehen? Kann ich das drohende Unheil verhindern? Etwas schockiert zieht sie die Brille ab. Sie ist ein sanftes Gemüt, und vielleicht nicht ganz die Zielgruppe für den derben Ton, den der Kriminalfall anschlägt. Trotzdem ist sie begeistert, will auch noch andere Apps ausprobieren.

Microsoft HoloLens

Fazit

Nach über sechs Stunden intensiver Tests meldet Cortana, dass der Akku sich seinem Ende neige, noch 23 Minuten verbleiben. Unsere Gruppe einigt sich darauf, es für Heute gut sein zu lassen. Schnell entsteht in der Runde eine Diskussion wozu so ein Gerät überhaupt gut sein soll. Erste Ideen entstehen. Für Unternehmen die bereits heute mit 3D-Modellen, oder CAD-Daten arbeiten, wäre so eine Brille ein echter Gewinn. Motorenteile könnten dreidimensional bearbeitet werden, Hydraulik-Modelle, oder vielleicht ein Modell einer Wasserversorgung, alles könnte live durchgespielt werden. Die holografische Darstellung hat einen unerklärlichen Reiz. Beflügelt uns. So haben wir uns als Kinder die Zukunft vorgestellt. Städte könnte man begehen, Medizin-Studenten die Anatomie eines Patienten durchleuchten, der Kühlschrank würde mich auf besonders gesunde, oder bald ablaufende Lebensmittel aufmerksam machen. Annemarie Wildeisen stände in meiner Küche, würde meinen Eintopf begutachten, mir in ihrem pfiffigen Ton erklären, dass ich das Küchen-Messer falsch halte, zeigt mir dann wie es besser geht und erinnert mich daran, dass mein Gemüse im Ofen, vor zwei Minuten verbrannt ist.

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